Im zweiten Halbjahr der gymnasialen Oberstufe (Q2) sieht das Kerncurriculum des Landes Hessen die Beschäftigung mit dem Thema Fotografie vor.

In Zuge der praktischen Auseinandersetzung mit Fotografie hat sich der LK Kunst mit vier größeren Projekten beschäftigt, die im Folgenden kurz erläutert werden. Die konkreten Ergebnisse der Auseinandersetzung waren im Rahmen der Ausstellung "KI, Regentinnen, Vermeer und mehr" in der Kulturwerkstatt Godot zu sehen und können jetzt noch ein Mal anlässlich der Kulturnacht bewundert werden.

Unser herzlicher Dank gilt in diesem Zusammenhang der Kulturwerkstatt Godot für die Ermöglichung der dortigen Ausstellung und dem Förderkreis der Oranienschule für die großzügige Unterstützung!


Projekt 1 - REGENTENSTÜCKE

Die Aufgabe

Die Schülerinnen und Schüler sollten ein fotografisches Porträt anfertigen, das in seiner Intention und Komposition eine Art moderne “Adaption” eines “Regentenstücks” darstellt.

Zunächst stellt sich die Frage: Was ist ein Regentenstück?

Ein Regentenstück ist ein Gruppenporträt von Standespersonen, das in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, dem Goldenen Zeitalter verbreitet war und einen wichtigen Auftragstypus für Maler darstellte.

Merkmale eines Regentenstücks ...

... es zeigt eine Gruppe von Personen, die einer bestimmten Zunft oder Gilde angehören, wie zum Beispiel Schützengilden, Bürgermeister oder Vorsteher von Waisenhäusern
... die Personen werden in einer räumlichen Inszenierung angeordnet und repräsentativ dargestellt.
... Regentenstücke dienten der Selbstdarstellung und Repräsentation des Bürgertums und der städtischen Oberschicht

Beispiel Regentstück Ferdinand Bol: Die Regenten des Amsterdamer Leprosenhauses, 1649

Gab es auch Regentinnenstücke?

Ja, es gab auch Regentinnenstücke, also Gruppenporträts von Frauen in Führungspositionen. In den Niederlanden des 17. Jahrhunderts übernahmen Frauen häufig die Leitung von sozialen Einrichtungen wie Waisenhäusern, Armenhäusern oder Altenstiften.

Beispiel Regentstück Frans Hals: Regentinnen des Altmännerhauses, 1664

Wie bei ihren männlichen Pendants dienten die Bilder der Selbstdarstellung und Repräsentation des Bürgertums, der städtischen Oberschicht. Die Frauen wurden in der Regel in vornehmer Kleidung und würdevoller Haltung inszeniert, um ihren Status und ihre Autorität zu unterstreichen.


Projekt 2 - VERMEERS "FENSTERBILDER"

Die Aufgabe

Bei Projekt 2 war die Aufgabe ein fotografisches Porträt anzufertigen, das in seiner Intention und Komposition eine zeitgemäße “Adaption” eines “Fensterbildes” von Vermeer darstellt.

Jan Vermeer (1632-1675) war ein niederländischer Maler des Barock und gilt als einer der bedeutendsten Künstler des Goldenen Zeitalters der Malerei in den Niederlanden. Er schuf in seiner kurzen Lebenszeit nur etwa 37 Gemälde.

Was ist typisch für das Werk von Jan Vermeer?

Vermeer war bekannt für seine außergewöhnliche Fähigkeit, Licht darzustellen. Er nutzte das einfallende Tageslicht, oft durch Fenster, um seinen Bildern eine besondere Atmosphäre und Tiefe zu verleihen. Diese Lichtführung verleiht seinen Gemälden eine realistische und zugleich poetische Qualität. Sein Umgang mit Licht und Schatten war für seine Zeit einzigartig.

Beispiel Vermeer Jan Vermeer: Dienstmagd mit Milchkrug, 1658-1660 und Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster, 1662

Vermeers Gemälde zeigen meist ruhige, häusliche Szenen aus dem Alltag des niederländischen Bürgertums im 17. Jahrhundert. Seine Kompositionen sind intim und seine Bilder zeigen meist eine oder wenige Personen, meist Frauen, bei alltäglichen Tätigkeiten wie Lesen, Musizieren oder Handarbeiten.

Und welche Rolle spielen Fenster im Werk Vermeer?

Fenster sind ein zentrales Element in vielen Gemälden Vermeers. Sie dienen nicht nur als Hauptlichtquelle, sondern tragen auch zur räumlichen Tiefe und symbolischen Bedeutung der Szenen bei. Fenster verbinden die Innenwelt der dargestellten Personen mit der Außenwelt und schaffen so eine Verbindung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen.
In vielen seiner Gemälde fällt das Licht von links ein, was eine gleichmäßige und natürliche Ausleuchtung der Szene ermöglicht.

Beispiel Vermeer Jan Vermeer: Junge Dame mit Perlenhalsband, 1663-1665 und Der Geograph, 1668

Fenster haben in Vermeers Bildern oft eine symbolische Bedeutung. Sie können als Metaphern für den Status, als spirituelle Symbole, als Spiegel der Emotionen der dargestellten Personen, als Barrieren oder als befreiende Ausblicke auf die Welt dienen. In "Briefleserin am offenen Fenster" beispielsweise kann das offene Fenster die Sehnsucht der Frau nach der Außenwelt und nach Freiheit symbolisieren.

Beispiel Vermeer Jan Vermeer: Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, 1657-1659 und Briefleserin in Blau, 1662 -1664

Fenster in Vermeers Gemälden können auch Hinweise auf den sozialen und kulturellen Kontext der dargestellten Szenen geben. Das Vorhandensein von Fenstern und die Art und Weise, wie sie dargestellt werden, können auf den Wohlstand und den gesellschaftlichen Status der Figuren hinweisen.


Projekt 3 - POESIE DER WIRKLICHKEIT

Die Aufgabe

Diese Aufgabe für den LK stammt aus der Kunstkiste von Mel Gooding, einer Sammlung von Methoden, Strategien und Techniken zur Annäherung an zeitgenössische Kunst.
Der folgende Text aus der Kunstkiste illustriert die dem LK gestellte Aufgabe zu Projekt 3 und deren Rahmenbedingungen:

"Seien Sie aufmerksam, achten Sie in Ihrem Alltag auf Ihre Umgebung und was diese an interessanten Motiven versteckt hält. Sie werden überrascht sein, dass gewöhnliche Gegenstände durch das Herauslösen aus ihrem üblichen Kontext plötzlich an Schärfe gewinnen. Vielleicht stellen Sie eine unerwartete Ähnlichkeit zwischen Dingen fest, die sonst nichts miteinander zu tun haben.

Fotografieren Sie solche Beispiele, die sich in einen gemeinsamen Kontext stellen lassen, so oft wie möglich."

"Der britische Bildhauer Richard Wentworth dokumentiert seit vielen Jahren die Poesie deplatzierter oder auf eigentümliche Weise wiederverwerteter Gegenstände, die er in der Wirklichkeit, d. h. auf der Straße, auf Bahnhöfen, Baustellen, in Geschäften, Cafés oder Büros usw. entdeckt. Das Wirkliche ist das, was uns die Welt präsentiert. Das Poetische ist eine Umdeutung, eine Frage subjektiver Betrachtung oder Wahrnehmung sowie das fantasievolle Herauslösen von Details.

Auf der Straße fallen Wentworth bestimmte Sachen auf: Sofas, Waschbecken oder Fernseher auf dem Bürgersteig; Tapeten und Öfen in durch Zerstörung offen liegenden Wohnungen; systematische Anordnungen unterschiedlicher Objekte auf Flohmärkten oder in Billigläden. In jedem Fall liegt sein Interesse in der neuen Bedeutung, die solche Objekte durch diese Deplatzierung erhalten. In seiner Serie Making do and getting by („Sich behelfen und klarkommen") ist das wiederkehrende Thema der schier unerschöpfliche Einfallsreichtum, mit dem die Menschen neue Verwendungsmöglichkeiten für alltägliche Gegenstände finden: Ein alter Schuh dient als Fensterstütze oder Türstopper, eine alte Autotür füllt die Lücke in einem Gartenzaun, eine Enzyklopädie ersetzt ein fehlendes Bettbein.

Wer auf solche Alltagspoesie achtet, dem wird klar, dass unsere Welt ein endloses Gedicht aus Gegenständen ist: nebeneinander aufgereihte Mülleimer; parallel verlaufende Holzdielen; das wilde Durcheinander von Kaffeebechern, die jemand hinter einen Laternenpfahl geklemmt hat; die elegante Gleichmäßigkeit von Fahrradständern, Geländern oder Pflastersteinen. Unser Auge und unser Geist werden von solchen Mustern und Übereinstimmungen angeregt: Die Kamera hält sie fest. Unsere Wahrnehmung des Alltäglichen wird verändert."


Text zitiert nach "Kunstkiste - Hier kommt Kunst raus!" von Mel Gooding, Verlag Antje Kunstmann, 20215


Projekt 4 - KI

Die Aufgabe

Im Rahmen dieses Projektes war der Kurs aufgefordert sich mit den Möglichkeiten der Bildveränderung bzw. der Bilderzeugung mittels KI auseinanderzusetzen. Dazu machten sich die Schülerinnen und Schüler zuerst mit der Funktionsweise von Bildgenerierung mittels KI vertraut, um dann auf der Basis von Texteingaben oder der Verwendung der selbst gemachten Fotografien "neue" Bilder zu erzeugen.

Wie funktioniert die Bilderzeugung mit KI?

KI-Bilder werden mithilfe von Machine-Learning-Modellen generiert, die mit Millionen von Bildern und zugehörigen Texten aus dem Internet trainiert wurden.

Der Prozess der KI-Bilderzeugung im Detail:

Text-to-Image / Text-zu-Bild
Die am weitesten verbreitete Methode ist Text-to-Image, bei der eine textliche Beschreibung (Prompt) in eine visuelle Darstellung umgewandelt wird:
Der Benutzer gibt einen detaillierten Text ein, z.B. "Drei realistisch aussehende Mammuts in einer schmelzenden Eislandschaft". Das Machine-Learning-Modell hat durch Training gelernt, wie Bilder zu bestimmten Texteingaben aussehen sollen. Es erkennt Muster und Beziehungen zwischen Text und Bildern.
Basierend auf der Eingabeaufforderung/dem Prompt erzeugt das Modell ein oder mehrere Bilder, die der Texteingabe möglichst nahe kommen.

Diffusion-Modelle
Viele KI-Bildgeneratoren nutzen sogenannte Diffusion-Modelle wie Stable Diffusion: Zunächst wird ein zufälliges Bildrauschen erzeugt. Eine erste KI versucht, aus dem Rauschen und der Texteingabe ein Bild zu generieren. Eine zweite KI versucht, das Bild der ersten KI zu verbessern und dem Prompt anzunähern. Dieser Prozess wird mehrmals wiederholt, bis ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt wird. Die Qualität hängt stark von der Ausführlichkeit und Genauigkeit des Textprompts ab. Je genauer die Beschreibung ist, desto realistischer und genauer wird das Bild.

Image-to-Image / Bild-zu-Bild
Einige KI-Tools ermöglichen auch die Bearbeitung und Optimierung vorhandener Bilder (Image-to-Image). Dabei dient ein Ausgangsbild als Input, das die KI dann im gewünschten Stil oder mit neuen Elementen verändert.

Die KI-Bilderstellung revolutioniert viele Branchen, wirft aber auch rechtliche und ethische Probleme auf, da die Modelle mit urheberrechtlich geschützten Bildern trainiert wurden. Hierzu hat sich der LK mit einer Fragestellung beschäftigt, die speziell den Bereich der Kunst in den Blick genommen hat:

Wie ist der Einsatz von KI im künstlerischen Bereich zu bewerten?

Lesen Sie unter dem folgenden Link Auszüge aus den Antworten der Schülerinnen und Schüler (PDF-Datei - öffnet sich in neuem Fenster).




Beispiel Regentstück Dirck Dircksz van Santvoort: Die Regentinnen und Hausmütter des Amsterdamer Spinnhauses, 1638

Beispiel Regentstück Rembrandt van Rijn: Die Vorsteher der Tuchmacherzunft (Staalmeesters), 1662